Pokémon – harmloses Spielzeug
oder Gift fürs Gemüt?

mh/aw. Inzwischen kennt sie jeder, der mit Kindern zu tun hat, diese merkwürdigen Figuren, die Pokémon genannt werden. In jedem Supermarkt und an jedem Kiosk kann man für teures Geld Bildchen davon kaufen, Schaufenster von Spielwarenläden sind voll von Plüschtieren und Spielen aller Art, im Kino und im Fernsehen laufen Pokémon-Filme, es gibt Gameboy- und Videospiele mit diesen «Taschenmonstern», wie  die «Pocket-Monster» auf deutsch heissen. Doch kaum eine Mutter oder ein Vater wissen, was es mit diesem Spielzeug auf sich hat: Ist es eine harmlose Mode, oder schadet es unseren Kindern?

So funktioniert das «Spiel»: Es gibt 151 verschiedene Pokémon-Figuren. Jede dieser Figuren verfügt über eine spezielle, «zerstörerische Kraft», wie die Zeitschrift «ethos» schreibt. Schillock hat einen scharfen Biss, Jurob verteilt Kopfnüsse, Hypno greift seinen Gegner mit einem Mix von Psychokräften an, Kadabra löst bei seinen Gegnern Kopfschmerzen aus und Abra kann Gedanken lesen, Dragonir kann das Klima beeinflussen, Gengar schleicht bei Vollmond Menschen hinterher und freut sich über deren Angst, Aerodactyl schneidet seinen Opfern mit zackigen Klauen die Kehle durch, Digdri verursacht schwere Erdbeben, indem es sich 90 km in die Erde gräbt, Nikoding erschlägt und zerdrückt mit seinem Schwanz seine Opfer und bricht ihnen die Knochen, Rihom kann Autos und Wohnwagen durch die Luft schleudern.

Antisoziales Training
Die Kinder werden nun mittels Werbung und Gameboy-Spielen mit dem Slogan «catch them all!» veranlasst, möglichst viele dieser Monster zu sammeln, indem sie sie zum Beispiel im Gameboy entdecken oder ihre Karte kaufen. Jetzt geht es darum, das Pokémon zu trainieren, «indem man es mit dem Pokémon eines Gegenspielers konfrontiert».  Nach jedem Sieg wird ein Pokémon stärker und verwandelt sich je nachdem in ein anderes, noch mächtigeres. Bei allen Spielen geht es ausschliesslich darum, den Gegner zu bekämpfen und zu besiegen. Dabei ist der Pokémon-Fan nicht einfach passiver Konsument, sondern er gestaltet den Verlauf der Geschichte aktiv mit. Diese interaktiven Spiele haben  bekanntlich einen sehr viel stärkeren Trainingseffekt als einfach passiver Konsum.
Legt man nun die  Forschungen von Dave Grossman und Julia de Gaetano zugrunde, wonach Film, Fernsehen und besonders Video-Spiele Kinder in der Tat zu gewalttätigem Verhalten anleiten und ihnen sogar die Technik des Tötens  beibringen, liegt es zwingend auf der Hand, dass Kinder durch die Beschäftigung mit Pokémon gewalttätiges, antisoziales Gegeneinander trainieren, sie denken, fühlen, leben sich ein in eine Welt, in der es kein friedliches Miteinander gibt, keine Freude am gemeinsamen Tun, keine Freundschaft, sondern nur den Kampf aller gegen alle.

Einführung in Okkultismus und Wahnwelt
Dieser Effekt wird noch dadurch verstärkt, dass wir es hier mit einer geschlossenen Fantasy-Welt zu tun haben, einem mystischen, magischen System. «Schau zu, dass du dein Pokémon immer dabei hast, und du bist für alles vorbereitet.» So suggeriert die Werbung dem Kind, dass es nur mehr auf sein Pokémon vertrauen müsse und schon sei es für alle Lebenslagen gewappnet. Die eigenen Kräfte und Fähigkeiten, Probleme und Konflikte zu lösen, spielen in der Pokémon-Welt keine Rolle. Die Kinder werden von der Wirklichkeit völlig weggeführt in eine mystische, gewalttätige, gefährliche Pseudo-Realität. Überleben kann darin nur der, der die besseren Waffen «entwickelt» hat (ein Schlüsselwort des Systems), wer heimtückischer, gemeiner oder stärker als der andere ist. Bei den Kindern wird ein Suchteffekt erzeugt, ihre Aufmerksamkeit und Energie ist von diesen Phantasien absorbiert, sie tauchen regelrecht in diese ein. Viele Lehrer können ein Lied davon singen, wieviel Zeit und Kraft es oft kostet, die Kinder nach der Pause wieder in die Wirklichkeit des Unterrichts zurückzuholen.
Die Grenzen zwischen Realität und Phantasiewelt verschwimmen im Spiel mit den Monstern des öfteren. Die Befragung verschiedener Klassen ergab, dass die Kinder sich zum Teil unsicher sind, ob es die Pokémon nicht doch wirklich gebe. Viele sind sich sogar sicher, dass es sie gibt. «ethos» zitiert einen Zehnjährigen, der sich vorstellen kann, auf einem Waldweg einem Pokémon zu begegnen. Dies in Verbindung mit den teilweise magischen Eigenschaften der Pokémon sowie den in den Geschichten stattfindenden geheimnisvollen Ritualen ist sehr dazu angetan, den Realitätssinn der Kinder zu verwirren und sie für Irreales und  okkulte Praktiken anfällig zu machen. Der türkische Junge, der kürzlich aus dem Fenster sprang, weil er glaubte, über dieselben übernatürlichen Fähigkeiten zu verfügen wie seine Pokémon, ist nur ein öffentlich gewordenes Beispiel für die Folgen dieser «Spiele». Nicht immer sind die negativen Auswirkungen so unmittelbar zu sehen, aber man darf die Folgen im Gemüt und Gefühlsleben der Kinder nicht unterschätzen. Nicht zuletzt kann die Beschäftigung mit derart irrealen und gewaltverherrlichenden «Spielen» zur Flucht in eine Phantasie- und Wahnwelt verleiten, wie sie auch der Drogenkonsum beinhaltet.

«Diesen Schund wollen wir hier nicht haben»
Den Vermarktern ist es gelungen, unter den  Kindern ein wahres Pokémon-Fieber auszulösen: Diese tun alles, um an die Spiele, Karten usw. zu kommen. Sie geben ihr gesamtes Taschengeld dafür aus, liegen ihren Eltern mit immer neuen Pokémon-Wünschen in den Ohren, ja es ist schon vorgekommen, dass Kinder ihre Eltern bestohlen haben, um sich weitere Pokémon beschaffen zu können. Viele Schulen haben den Tausch von und das Spielen mit Pokémon-Objekten bereits verboten, weil es zu Gewaltätigkeiten und Erpressungen kam, um an die begehrten Objekte zu kommen. So wird von einem Fall auf Long Island berichtet, bei dem ein 9-jähriger Schüler einen Klassenkameraden niederstach, weil dieser sich weigerte, eine Pokémon-Karte zu tauschen. In St. Augustin, Nordrhein-Westfalen, schlugen zwei Sammler einen 12-Jährigen spitalreif, um an dessen Karten zu kommen. «Hier in unserem Einflussbereich wollen wir diesen Schund nicht haben», sagt die Rektorin einer Schule in Wurzach, Baden-Württemberg. «Das verträgt sich nicht mit unseren Erziehungszielen», erklärt sie auch in Bezug auf die gewalttätigen Inhalte und hat zusammen mit Kollegen und Schülereltern «eine Pokémon-freie Zone» an der Schule geschaffen. Die Schüler akzeptierten das Verbot.

Cui bono – wem nützt es?
Das Fieber beschert unter anderem Gameboy-Hersteller Nintendo ein einträgliches Geschäft: In Japan wurden bereits über 12 Millionen Gameboy-Spiele abgesetzt, in der Schweiz wird der Pokémon-Umsatz für dieses Jahr auf 50 Millionen Franken geschätzt. Und die Fortsetzung dieses Wahnsinns ist bereits geplant: Die «Digimon» (digitale Monster) sind schon im Anmarsch. Wozu tun wir unseren Kindern das an?

Eltern und Lehrer haben etwas in der Hand
Eltern und Lehrer, Erzieher, Grosseltern, Verwandte und überhaupt alle Erwachsenen haben es in der Hand, diesem Gift, dem unsere Kinder da ausgesetzt werden, etwas entgegen zu setzen.
Zunächst müssen und können Kinder darüber aufgeklärt werden, was Pokémon tatsächlich ist und welche verheerenden Auswirkungen es auf ihr Gemüt hat. Einige Lehrer haben das bereits mit Erfolg praktiziert: Auch begeisterte Pokémon-Fans hören aufmerksam zu, wenn der Lehrer ihnen sagt, dass es ihm nicht darum geht, ihnen etwas wegzunehmen, ihnen einen Spass nicht zu gönnen, sondern dass ihm die Kinder so wichtig sind, dass er es nicht zulassen will, dass sie für ihr Leben Schaden nehmen. Auf diesem Boden kann man Kindern vieles in altersgerechter Weise erklären, und sie gehen gern ein, wenn auch nicht immer sofort. Darüberhinaus ist es unerlässlich, den Kindern Alternativen einer sinnvollen Freizeitgestaltung zu zeigen und sie dabei auch anzuleiten.
Auch die heutigen Kinder sind durchaus für vielerlei Aktivitäten zu begeistern, die ihre Entwicklung fördern, bei denen sie Selbständigkeit, Toleranz, Rücksichtnahme, Kooperationsfähigkeit und andere zahlreiche, für ihr Leben sinnvolle positive Eigenschaften entwickeln. Auch eingefleischte Gameboy-Spieler entwickeln eine Begeisterung z.B. für  Geländespiele oder Stadtralleys, für das Bauen von Hütten im Wald, fürs Zelten mit Lagerfeuer oder eine Nachtwanderung, für spannende Brett- und Kartenspiele, für Sportspiele im Verein,  ja auch fürs Singen und Musizieren. Oder wie wär’s mit gemütlichen Bastelrunden, zum Beispiel jetzt in der Vorweihnachtszeit? Lehrer machen auch immer wieder die Erfahrung, dass selbst fernsehgewöhnte Kinder an ihren Lippen hängen, wenn sie eine Geschichte, die ihr Gefühl, ihr Gemüt anspricht, spannend und in Beziehung mit dem Kind vorlesen. Die Liste liesse sich endlos fortsetzen.
Wichtig ist, dass Eltern und alle, die mit Kindern zu tun haben, wissen: Die Kinder sind ihrer Natur nach auch keine anderen als diejenigen früherer Generationen. Wenn wir uns ihnen mit Freude und Begeisterung zuwenden, sind sie zu gewinnen und ziehen eine schöne, fröhliche Runde, in der man etwas gemeinsam unternimmt, jedem Videospiel vor. Dies gilt auch für die Jugendlichen: Von ihrem oft coolen Gehabe sollten wir uns nicht allzusehr beeindrucken lassen. Das gehört nach Meinung vieler Jugendlicher heute zum guten Stil. Trotzdem sind sie ausgerichtet auf ihre Eltern und Lehrer und sind oft sehr froh, wenn man offen mit ihnen spricht, sie ernst nimmt und mit ihnen sinnvolle Perspektiven, Lösungen für anstehende Probleme usw. entwickelt.  Und selbstverständlich  sind auch sie für konstruktive Betätigungen zu gewinnen. •

(Rundbrief 1, "Für die Familie e.V., Dezember 2000)