ekb/emn. Nach Erfurt denken viele verantwortungsbewußte Eltern, Lehrer und andere ernsthafte Mitbürger noch mehr darüber nach, welchen Zusammenhang es zwischen Erziehung, Medieneinfluß und Gewaltausübung in unserer Gesellschaft gibt. Schwierigkeiten in Familien hat es immer gegeben. Sie sind heute nicht größer als z. B. vor 20 Jahren. Aber es gab noch nie solche Exzesse von Gewalt.
Warum gibt es Gewalttaten aber heute in solchem Ausmaß ?
An einem Diskussionsabend zu dem Thema Mediengewalt im
Stadt-Land-Kindergarten referierten Renate Hänsel (Dipl. Pädagogin
und Gymnasiallehrerin) und Elisabeth Kornder-Bilke (Hauptschullehrerin
und Mutter) zu Wirkung und Prävention von Mediengewalt. Seit Jahrzehnten
gibt es eine Fülle von wissenschaftlichen Untersuchungen, die eindeutig
den Zusammenhang zwischen Medienkonsum und Gewaltbereitschaft belegen.
Den sogenannten Wissenschaftsstreit gibt es unter ernsthaften Forschern
nicht. Die Filmdokumentation „Rettet unsere Kinder – die Folgen der visuellen
Bildschirmgewalt“ von Bernd Dost zeigt in eindrücklicher Weise, wie
verheerend z. B. gewalthaltige Zeichentrickfilme bereits auf die Kleinsten
wirken. Gravierende Sprachstörungen sind häufig die Folge. Beim
Konsumieren der gewaltverherrlichenden Videospiele für die Größeren
werden die Kinder zu Tätern. Sie trainieren gezielt am Bildschirm
Menschen umzubringen.
Amerikanische Kinder zwischen 2 und 18 Jahren verbringen
durchschnittlich 6 Stunden täglich vor dem Fernseher. Das ist mehr
als irgendeine andere Aktivität außer Schlafen. Wenn sie 18
Jahre alt sind haben sie im Durchschnitt 200000 Gewalttaten (nur im Fernsehen)
angeschaut. (Die Sendung Power Rangers, eine bei uns beliebte Kindersendung
enthält etwa 200 Gewalttaten pro Stunde). Dieses Fernsehverhalten
führt zu aggressivem Verhalten, Desensibilisierung gegen Gewalt, Angst,
Depressionen, Alpträumen, Schlafstörungen und dem Gefühl,
daß die Welt ein gefährlicher Ort ist.
Das gleiche gilt für Video- und Computerspiele.
3500 Studien haben den Zusammenhang zwischen Mediengewalt und Aggression
untersucht. Alle außer 18 haben einen signifikanten Zusammenhang
gefunden (keine einzige Studie fand einen Nulleffekt, keine den sogenannten
Katharsis-Effekt).
Dieser Zusammenhang ist stärker als
- der Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs
- Kalziumgabe und Knochenstärke
- Sexualverkehr ohne Kondom und Aids-Infektion.
Stellt man sich vor, daß kein Medikament auf den
Markt kommt, wenn signifikante Nebenwirkungen im Vorfeld getestet wurden,
daß beim Nitrofen-Skandal zwei Studien ausreichten um zig Bauernhöfe
zu schließen, so müssen gerade uns Eltern die obengenannten
Ergebnisse sehr nachdenklich stimmen und zum Handeln aufrufen.
Prof. Dr. Schneider, ein führender international
anerkannter Kriminologe und Viktimologe bringt es auf den Punkt: „Es existiert
eine Bildungslücke zwischen den Forschungs-ergebnissen über die
Wirkungen der Fernsehgewalt und den Kenntnissen darüber in der Öffentlichkeit
und unter Praktikern. Die Film– und Fernsehindustrie ... nimmt von den
Forschungsergebnissen keine Kenntnis; sie ignoriert sie. Sie greift sie
an; sie verdreht sie und verfälscht sie sogar in ihren Sendungen.
Sie kommt mit ihrer Haltung durch. Denn die Macht steht auf ihrer Seite.“
Zu den sogenannten Ballerspielen wurden deren noch unmittelbareren
Auswirkungen auf das Gemüt und die Persönlichkeitsentwicklung
der Kinder und Jugendlichen dargestellt: Bei diesen Spielen sind sie nicht
passive Zuschauer, sondern werden selbst am Bildschirm zum Täter.
Sie sitzen vor dem Bildschirm und lernen z. B. mit dem Joystick sekundenschnell
die menschlichen Figuren umzubringen. Das Videospiel Doom wurde von der
amerikanischen Regierung entwickelt, um den Militärs die Tötungshemmung
zu nehmen. Es ist ein Renner unter den amerikanischen Videospielen. David
Grossmann, ehemals Militärpsychologe, verweist in dem Buch „Wer hat
unseren Kindern das Töten beigebracht“ darauf, daß häufiger
und langfristiger Gewaltkonsum im Fernsehen unsere Jugendlichen empfänglich
macht für die Konditionierungseffekte durch Videospiele, die die Tötungshemmung
beseitigen. In modernen Hirnforschungsuntersuchungen konnte gezeigt werden,
daß die Hirnareale, die für das logische Denken zuständig
sind, bei dieser Art von Spielen ausgeschaltet sind. In diesen Killerspielen
wird getötet ohne zu denken. Die Folgen können wie in Erfurt
fatal sein. Ein Jugendlicher bestätigte im Gespräch diesen Effekt:
Er spiele diese Spiele, weil sie das Mitleid töten und er möchte
Söldner werden.
Die Rekruten, die durch Videospiele für das Töten
trainiert werden, erhalten aber gleichzeitig eine Schulung zur Disziplinierung,
durch die sie innere Kontrollen aufbauen, damit sie außerhalb des
Militärs nicht töten. Diese Kontrollen gibt es bei unseren Kindern
und Jugendlichen nicht. Sie überläßt man einfach diesen
sogenannten Tötungssimulatoren. Der Täter von Erfurt spielte
immer wieder Counterstrike, das ist eine bestimmte Art Menschen zu töten.
Je näher man an die Person herankommt, desto besser trifft man. Das
wird einem in diesem Spiel antrainiert. Nach Polizeiberichten in Erfurt
waren einige Opfer derart entstellt, daß man sie nicht identifizieren
konnte.
Der o.g. Film von Bernd Dost zeigt auch in eindrücklicher
Weise sprachgestörte Kinder in einer Sprachheilschule. Jugendliche,
denen man diese Sequenz vorspielt, sind erschüttert über die
sprachliche Nicht-Ausdrucksfähigkeit dieser Grundschulkinder. Organische
Ursachen der Störungen sind bei diesen Kindern nicht vorhanden. Aber
viele schauen viel fern, haben teilweise sogar ein eigenes Gerät und
Videocassetten im Zimmer.
Sprechen lernt man nur durch Sprechen, d. h. Kinder brauchen
einen Dialogpartner, der sich mit ihnen unterhält und an dem sie sich
orientieren können. Sie müssen sich wohl fühlen, sie müssen
spüren, daß Sprechen Freude macht. Kinder werden heute aber
häufig zum Empfänger, werden vor den Fernseher oder Computer
abgeschoben – eine Kommunikation findet nicht mehr statt. Vor 20 Jahren
gab es ca. 4% sprachentwicklungsverzögerte Kinder, heute sind es 25%.
Eine neue Längsschnittstudie der Uni Würzburg
fand unter anderem heraus, daß 2-3 Stunden Fernsehen pro Tag im Vorschulalter
sich negativ auf die Lese- und Rechtschreibfähigkeiten in der 3. Klasse
auswirken.
Was können wir als Erzieher gegen diese Entwicklung tun?
Eine vertrauensvolle, aktiv gesuchte und gleichwertig
gestaltete Beziehung zwischen uns und unseren Kindern kann helfen, diese
zerstörerischen Einflüsse abzuwehren. Wir können unsere
Kinder und Jugendlichen dafür gewinnen, sich diesen Gewaltexzessen
nicht auszusetzen. Einige Grundlagen der personalen Psychologie und entsprechende
Forschungsergebnisse der Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter
sind hier hilfreich: Gewissensbildung, ethisches Verhalten und sittliches
Empfinden nehmen vom ersten Tag an ihren Lauf im sozialen Wechselspiel
innerhalb der Familie. Sie haben ihre Wurzeln in der Empathie, im Einfühlungsvermögen,
das sich in der positiven Bindung des Kindes an seine ersten Bezugspersonen
entwickelt. Hier entsteht das Mitgefühl, das eine innere Hemmschwelle
gegen Gewalt ist. Hier entsteht das Gefühl: „Das kann ich einem anderen
nicht antun. Da kann ich nicht zuschlagen.“ Hier bekommt das Kind auch
die Anleitung für prosoziales Verhalten, sei es die Mithilfe im Haushalt
oder das Unterstützen eines alten gebrechlichen Nachbarn. Auch im
Jugendalter hat die Familie entscheidende Bedeutung. Ohne sichere Bindung,
ohne inneres Zuhause in seiner Ursprungsfamilie ist der Jugendliche heimatlos.
Deswegen müssen wir Erzieher diesen feinfühligen,
ehrlichen inneren Dialog in Bezug auf die geforderten Werthaltungen gerade
mit dem Heranwachsenden auch aktiv leben. Gerade in der Pubertät müssen
Werte, wie Friedfertigkeit oder konstruktives Mittun eingefordert und bestätigt
werden. Denn in dieser Zeit ist die heranwachsende Jugend besonders mit
den destruktiven Einflüssen konfrontiert. Wir dürfen es nicht
dem Zufall überlassen, wo sich unsere Kinder orientieren und sie in
die Subkultur abgleiten lassen. Der Jugendliche braucht die „Reibungsfläche“,
die ihm Halt und Orientierung gibt. Er braucht die aktive Auseinandersetzung
mit positiven Vorbildern, um Werthaltungen zu festigen und weiterzuentwickeln.
Quelle: Für die Familie e.V., Infobrief 4, Dezember 2002