Mehr Wettbewerb – der Siegeszug des Sozialdarwinismus

 

Kst. „Mehr Wettbewerb“ lautet eine Parole, die uns ständig wiederholt wird. Wettbewerb soll dazu führen, dass die Besten im Beruf oder in der Politik Erfolg haben und dass die besten Firmen den Konkurrenzkampf überstehen. Dieser unaufhörliche Vergleich mit anderen soll zu immer höheren Leistungen und zu ständig gesteigerter Effizienz führen. Nach dem EU-Verfassungs­entwurf hat der „freie und unverfälschte Wettbewerb“ sogar Verfassungsrang (Artikel I-3, Absatz 2).

Abgesehen davon, dass man fragen kann, ob diese Optimierung nicht auch zu immer rücksichtsloserem Vorgehen zwingt (vielleicht taktisch gedämpft durch eine Fassade ethischen Wohlverhaltens): sind wir Menschen wirklich für diesen Konkurrenzkampf angelegt? Hand aufs Herz: fühlen wir uns wohl, und erbringen wir die besten Leistungen in einer Umgebung des ständigen Vergleichens mit anderen, verbunden mit Angst, den ständig steigenden Anfor­derungen nicht zu genügen?

In seinem beachtenswerten Buch Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren legt der Mediziner und Psychotherapeut Joachim Bauer aus­gehend von aktuellen wissen­schaftlichen Befun­den dar, warum es uns Menschen viel angemessener ist, gute Bezie­hungen zu pflegen und unsere Verschie­denheit zu fruchtbarer Zusam­men­ar­beit zu nutzen. Das Menschen­bild Darwins (dessen Verdien­ste um die Neubegrün­dung der Biologie durch die Abstammungslehre hier nicht geschmälert werden sollen) hat sich jedoch in unserer Kultur weitgehend durchgesetzt. Für ihn war die biologische Grund­eigenschaft aller Lebe­wesen der Wille, gegeneinander ums Überleben zu kämpfen. Entgegen der landläufigen Meinung hat sich diese Interpretation der Evolutions­theorie nicht erst in Folge der Schriften Darwins gebildet. Schon in Darwins zweitem Hauptwerk (Die Abstammung des Menschen, 1871) ist an zentraler Stelle zu lesen: „Es muss für alle Menschen offene Konkurrenz bestehen, und es dürfen die Fähigsten nicht durch Gesetze oder Gebräuche daran gehindert werden, den größten Erfolg zu haben“. Im Hinblick auf die dominierende Supermacht könnte man sagen, dass dieses Weltbild zu einer Art Ersatzreligion geworden ist. Übrigens kann keine Evolutionstheorie sagen, wer eigentlich der Fähigste ist. Sie führt ja nicht etwa zielgerichtet zu etwas Besserem – in ihrem Sinne ist der Fähigste derjenige, der Erfolg hat. Und damit schließt sich ein logischer Zirkel. Die Evolution ist nicht als Handlungsrichtlinie für uns Menschen geeignet, da ihr ein ethisches Korrektiv – etwa das, was wir als Menschlichkeit bezeichnen – vollkommen  fehlt.

Bauer widerlegt überzeugend die Grundannahmen des Sozialdarwinismus. Er führt die neurowissenschaftlichen Befunde auf, die belegen, dass der Mensch (wie auch andere hochentwickelte Lebewesen) von Natur aus auf Kooperation angelegt ist. Dies drückt sich etwa in dem in den letzten Jahren entdeckten System der sogenannten Spiegel­neuronen aus. Diese Nervenzellen sorgen dafür, dass ein Mensch das, was er bei einem anderen Menschen wahrnimmt, im eigenen Organismus nacherlebt. Dieses System lässt uns Schmerz empfinden, wenn wir zusehen müssen, wie sich eine andere Person verletzt und macht uns auch für emotionale Stimmungen ansteckend.

Sind nun solche Fähigkeiten einfach angeboren? Die Antwort auf diese Frage ist für Erzieher besonders interessant: Bauer legt dar, dass die genetische Ausstattung ledig­lich das Werkzeug dafür bereitstellt: Entscheidend für die Fähigkeit, diese Systeme auch einzusetzen, ist, ob sie – vor allem in der Frühphase des Lebens – eingespielt und benutzt werden konnten, und das heißt: ob Kinder in ihrer Umwelt gute Erfahrungen mit anderen Menschen machen konnten. Dies ist eine der wichtigsten Aufgaben für Eltern: unseren Kindern zu ermöglichen, positive und verlässliche Beziehungs­erfahrungen zu machen. Die wichtigsten Bezugspersonen sind schließlich – wie man, falls man es vergessen haben sollte, in der Buchbesprechung auf Seite 4 nachlesen kann – die Eltern.