Computerspiele - Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche

Interview mit dem Hirnforscher und Psychiater Prof. Dr. Gerald Hüther, Autor u.a. des Buches „Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn“ (Göttingen, 2001). Das Interview führte Peter Schipek von der Webseite www.lernwelt.at

Peter Schipek: Computersüchtig - Kinder im Sog moderner Medien, so der Titel Ihres Buches. Welches Interesse haben Sie als Hirnforscher an diesem Thema, Herr Pro­fes­sor Hüther?

Prof. Dr. Gerald Hüther: Herauszufinden, was bei übermäßigem Computerkonsum im Gehirn passiert.

Schipek: Und was passiert dabei im Gehirn?

Hüther: Wenn Kinder und Jugendliche täglich mehrere Stunden vor ihren Computern verbringen, verändert das nicht nur ihre Wahrnehmung, ihr Raum- und Zeitempfinden und ihre Gefühlswelt - alles was sie in den Computerspielen erleben, verändert auch ihr Gehirn.

Schipek: Wie, auf welche Art verändert Computerspielen das Gehirn?

Hüther: Die Art und Weise, wie die Nervenzellen im Gehirn miteinander verknüpft werden, hängt davon ab, was man mit seinem Gehirn macht. Wer immer wieder in den Strudel virtueller Welten eintaucht, bekommt also ein Gehirn, das immer besser an all das angepasst ist, was dort geschieht, mit dem man sich aber im realen Leben immer schlechter zurechtfindet. Die Fiktion wird dann zur lebendigen Wirklichkeit und das reale Leben zur bloßen Fiktion. Hirnforscher haben herausgefunden, dass die Strukturierung des Gehirns, die Verschaltungen zwischen den Milliarden Nervenzellen davon abhängt, wofür ein Kind sein Gehirn benutzt.

Schipek: Unser Gehirn wird also so, wie wir es benutzen?

Hüther: Ja und das gilt vor allem für das Gehirn von Kindern und Jugendlichen. Hier wird vor allem in der Großhirnrinde zunächst ein riesiges Überangebot an Nervenzell­ver­bindungen bereitgestellt. Stabilisiert und erhalten bleiben davon aber nur diejenigen, die auch wirklich benutzt, das heißt häufig genug aktiviert werden. Der Rest wird wieder abgebaut.

Schipek: Wie hoch ist die Zahl computersüchtiger Kinder und Jugendlicher in Deutsch­land?

Hüther: Wir gehen davon aus, dass sie in die 100.000 geht. Das ist allerdings nur eine  Schätzung. Genaue Zahlen gibt es nicht. Das Problem ist ja, dass diese computer­süchtigen Kinder und Jugendlichen lange Zeit kaum auffallen.

Schipek: Warum sind vor allem Jungen beziehungsweise Männer davon betroffen?

Hüther: Die gängige Vorstellung, dass Frauen das schwache Geschlecht sind, stimmt physiologisch gesehen nicht. Männliche Föten sterben leichter ab. Babys, wenn es Jungs sind, sind auch schwerer durch Krisen zu bringen als Mädchen. Jungen gehen also mit einem schwächeren Fundament ins Leben hinaus. Das führt dazu, dass sie stär­ker als Mädchen darauf angewiesen sind, Halt in äußeren Dingen zu suchen. Das manifestiert sich in einer stärkeren Außenorientierung oder auch Extrovertiertheit. Dies macht sie anfälliger für Angebote von außen. Das Spektrum haltbietender Krücken, die die Jungs dann leichter und bereitwilliger ergreifen als die Mädchen reicht von Drogen über Gewalt bis hin zu Computerspielen.

Schipek: Woran können Eltern erkennen, dass ihr Kind computersüchtig ist?

Hüther: Wenn ein Kind seine Zeit lieber vor dem Computer verbringt, als seinen natür­lichen Bedürfnissen nachzugehen, draußen herumzurennen und mit anderen zu spielen, wird es bedenklich. Das Kind zieht sich immer mehr in seine Computerwelt zurück. Besonders gefährlich sind übrigens Online-Computerspiele.

Schipek: Was ist so besonders gefährlich daran?

Hüther: Diese Spiele sind so beschaffen, dass man sich beispielsweise eine Figur aufbaut, quasi einen Repräsentanten für sich selbst. Dem gibt man alle möglichen Eigenschaften mit, damit er gut durch die Welt finden kann. Soweit ist das ja auch ganz wunderbar. Da aber online gespielt wird, dürften die Kinder eigentlich gar nicht ab­schal­ten: Denn sonst laufen sie Gefahr, dass andere Spieler ihre Abwesenheit nutzen, um der Figur etwas wegzunehmen. Die Kinder versuchen also, um jeden Preis dran zu bleiben. Dabei wird dann das Essen vergessen, ganz zu schweigen von Hausaufgaben und sozialen Kontakten.

Schipek: Was ist Ihre Empfehlung an Eltern?

Hüther: Eltern, die der Meinung sind, das Gehirn ihrer Kinder entwickele sich von allein, egal, ob sie draußen spielen, ob sie lesen, Musik machen oder vor ihren Computer­spielen hocken, müssen dringend umdenken.

Schipek: Weil ihre Kinder sonst vor dem Computer verdummen?

Hüther: Das Problem ist viel subtiler. Denn in ihren virtuellen Welten, finden sich diese Kinder mit ihrem so angepassten Gehirn ja hervorragend zurecht. Die dabei aktivierten Nervenzellverschaltungen werden immer stärker gebahnt und stabilisiert. Es entwickelt sich quasi eine auf diese Computerspiele spezialisierte, enorm reaktionsschnelle und abstrahierende Intelligenz - auf Kosten anderer, seltener aktivierter Verschaltungen.

Schipek: Wie können Eltern Kinder und Jugendliche vor übermäßigem Computer­kon­sum schützen?

Hüther: Kinder und Jugendliche brauchen Aufgaben, an denen sie wachsen und neue Erfahrungen machen können. Sie brauchen auch Anregungen und Gelegenheiten, um ihre sportlichen oder künstlerischen Talente zu entwickeln und Eltern, die ihnen Liebe, Geborgenheit und Orientierung geben. Das sind die wichtigsten Säulen für eine glück­liche Kindheit. Wer davon getragen wird, braucht keine Krücken.

Schipek: Der Computer ist also für viele Kinder und Jugendliche eine Krücke?

Hüther: Ja, ein besonders attraktiver Ersatz, für das, was viele Kinder und Jugendliche in unserer heutigen Welt nicht finden: Lösbare Aufgaben, Abenteuer und eigene Ent­deckungen, überschaubare Regeln und erreichbare Ziele. So schaffen die Computer­spiele ein Ersatz-Glück, das die „Belohnungszentren“ im Hirn sehr effizient aktiviert, nicht zuletzt dadurch, dass es die Möglichkeit bietet, Fähigkeiten und Geschick­lich­kei­ten auszubilden, über die andere nicht verfügen. Die Welt erscheint beherrschbar, das Ego wird aufgewertet.

Schipek: Und weil der Computer dieses Ersatz-Glück bietet, kann es zur Sucht kom­men?

Hüther: Sucht war noch nie etwas anderes als die Suche nach einem Ersatzglück, eine Krücke eben. Das tückische bei der Computersucht ist der Dopamin-Kick mit seiner Zweifachwirkung: Endogene Opiate werden freigesetzt und erzeugen einen rausch­artigen Zustand. Gleichzeitig werden die dabei aktivierten Nervenzell­ver­schal­tun­gen zu immer breiteren Straßen und schließlich zu Autobahnen ausgebaut, die schließlich das gesamte Denken und Verhalten lenken.

Schipek: Breitere Straßen, Autobahnen im Kopf?

Hüther: Wenn die Nervenzellen unten im Belohnungszentrum aktiviert werden, wird der Botenstoff Dopamin ausgeschüttet, der die Freisetzung endogener Opiate stimuliert, die wie Opium oder Heroin wirken. Neben dem rauschhaften Zustand bewirkt Dopamin aber auch, dass die beim Computerspiel aktivierten Nervenverbindungen allmählich im­mer fester gebahnte Wege, Straßen und am Ende sogar breite Autobahnen werden, von denen man wenn überhaupt, dann gar nicht so leicht wieder herunterkommt.

Schipek: Autobahnen ohne Ausfahrt also?

Hüther: Die gibt es nicht. Wichtig sind Vorbilder, die Kindern zeigen, wie man Probleme, die das Leben immer mit sich bringt, löst, anstatt in Ersatzbefriedigungen zu flüchten. Ein Blick in den eigenen Spiegel kann deshalb bisweilen recht aufschlussreich sein.

Schipek: Herr Professor Hüther – herzlichen Dank für das Gespräch!

Quelle: www.lernwelt.at