Unsere Lebensrealität ist eine andere. Das war in der Generation unserer Großeltern, die Krieg und Vertreibung erleben mußten, noch anders. Wissen wir heute, auf welche Welt wir unsere Kinder vorbereiten müssen? Wie stark wären dann ihre inneren Widerstandskräfte in Zeiten der Krise, in Zeiten des Krieges? Welchen Beitrag leisten wir Eltern, Erzieher, Lehrer zur Friedenserziehung? Wie stehen wir innerlich in Konfliktsituationen, wenn Kinder streiten? Was heißt überhaupt Friedenserziehung im Alltag?
Friedenserziehung gelingt nur, wenn der Mensch lernt, seine Würde
genau so wie die des Mitmenschen zu achten. Friedenserziehung erfordert
eine gefühls- und verstandesmäßige Präsenz des Erziehers,
der Wege sucht, das Kind in seiner Entwicklung zur Friedfähigkeit
hin zu begleiten. Das Kind braucht Anleitung, Konflikte als solche zu orten,
sie wahrzunehmen, zu verstehen und schließlich einen friedlichen
Lösungsweg zu suchen. Dann kann später auf politisch-inhaltlicher
und schließlich auf der menschlichen Ebene der Friede hergestellt
werden. Opfer und Täter sind eines Tages gefordert, gemeinsam eine
Gesellschaft wiederaufzubauen, ein Alltagsleben möglich zu machen,
Versöhnung zu leben. Dies ist ein politischer, aber auch ein zwischenmenschlicher
Prozeß, auf den jeder vorbereitet sein sollte und zu dem der Mensch
fähig werden muß.
Situationen, die geeignet sind, Friedenserziehung zu praktizieren,
zu leben, begegnen jedem Erzieher im Alltag dort, wo Kinder miteinander
leben. So wie im folgenden Beispiel.
Sie kann diesem kleinen, alltäglichen Konflikt besser begegnen,
wenn sie sich der großen Dimension bewußt ist, wenn sie sich
der Würde ihrer Erziehungsaufgabe im klaren ist, wenn sie weiß,
daß genau in diesem Moment ein Stück Friedenserziehung stattfindet.
Um den Lift nicht länger zu blockieren, steigt sie mit den noch protestierenden
Kindern aus. «Also Kinder, was ist los?», stellt sie als Frage
in den Raum. Die Kinder bringen den Konflikt aus der eigenen Sicht zum
Ausdruck: «Es ist doch meine Aufgabe», so der Große.
«Aber ich bin jetzt auch schon groß und weiß, wo ich
drücken muß», so die Kleine.
Die Mutter nimmt beide in ihrer Sicht entgegen: «Es ist wirklich
schön, daß du, Niklas, schon so mitdenkst und Aufgaben übernimmst
für uns alle, den Hasen fütterst, Brötchen kaufen gehst
und auch im Lift schaust, daß wir im richtigen Stockwerk ankommen.
Und du, Sabrina, bist tatsächlich auch schon groß geworden und
kannst auch immer mehr. Das stimmt, findest du nicht auch, Niklas?»
So bemüht sie sich um ein Stück Einfühlung in den anderen,
das Nachvollziehen des Standpunktes des Gegenübers. Schließlich
stellt sie die Frage: «Wer hat eine Idee, was wir jetzt machen sollen.
Wer von euch darf die Knöpfe bedienen?» Zu ihrer großen
Freude kommt der Vorschlag von den Kindern: «Wir wechseln ab. Und
du darfst anfangen», so Sabrina zu ihrem Bruder.
Hier ging es um mehr als nur um das Abstellen des Streits. Um mehr als die aktuelle Lösung des Konfliktes, der zudem recht harmlos war.
Wenn Kinder Verständnis erfahren und man mit etwas Zeit und Ruhe den Prozeß begleitet und an einer einvernehmlichen Lösung arbeitet, einer Lösung, die von jeder Partei angenommen werden kann, dann findet Friedenserziehung statt. Kein erzwungener «Friede», sondern ein errungener Friede ist hier die Perspektive.
Beim Abendessen eine halbe Stunde später fragt die Mutter den Vater: «Und, wie war dein Tag?» «Ganz schlecht.» «Warum?» fragt sie interessiert. «Es gab Ärger mit dem Chef.» Die Kinder blicken aufmerksam. Der Vater berichtet ein wenig vom Ärger, und alle hören zu. Die Mutter sagt: «Ja, das verdirbt einem die gute Stimmung.» Die Kinder gingen ins Bett, malten zuvor noch ein schönes Bild und schrieben das Wort «Entschulbigung» auf ein Blatt. Dieses legten sie auf sein Kopfkissen. Als der Vater spät abends die beiden Blätter fand, war er ganz gerührt - aus ihnen sprach, daß die Geste der Entschuldigung ehrlich gemeint war. Der Vater überlegte, wie er hierauf reagieren wollte. Am nächsten Tag fanden die Kinder folgenden Zettel auf dem Küchentisch: «Liebe Alisa, lieber Paul, Papi hat sich sehr gefreut und sagt auch Entschuldigung, weil er zu arg geschimpft hat. Euer Papi.» Die Kinder strahlen, als Paul das Brieflein vorliest. Abends sagte der 8jährige, als der Vater sich erkundigte, ob sie seinen Brief gefunden hätten. «Ja, ich habe mich sehr glücklich gefühlt.»
Kurz nach Schuljahresbeginn wird die Lehrerin auf einen für die
Schüler nicht lösbar scheinenden Konflikt aufmerksam. Ein Schüler
zischt seine Mitschülerin an, jetzt sofort den Druckbleistift zurückzugeben,
den sie ihm weggenommen habe. Diese insistiert darauf, zu Unrecht angeschuldigt
zu werden.
Die Lehrerin unterbricht die Mathematikstunde und erkundigt sich, welches
Problem hier vorliege. Im selben Moment, in dem die Schüler den Konflikt
vortragen, findet der Jugendliche seinen Stift wieder, der zwischen die
Bücher gerutscht ist. Es war also ein Mißverständnis. Da
genau dieser Schüler aber im vergangenen Jahr von der Klasse massiv
gemobbt worden ist und Mitschüler oft seine persönlichen Gegenstände
versteckt haben, nimmt sie diese Situation zum Anlaß, hier die Brücke
zwischen den Schülern weiter auszubauen. Sie wendet sich an die Klasse
mit der Frage: «Kann jemand unseren drei Mitschülern, die dieses
Jahr neu in unsere Klasse gekommen sind, erklären, was hier los ist?»
Sie erteilt einer Schülerin das Wort, die plastisch und einfühlsam
zu berichten vermag, wie Samuel im vergangenen Schuljahr von der Klasse
geärgert worden ist. Die Lehrerin schließt die Frage an: «Und
wer kann sich vorstellen, wie es einem in einer solchen Situation geht?»
Ein Mitschüler antwortet: «Das tut einem im Herzen, im Gefühl
weh, wenn man das erlebt. Und auch wenn es dann vorbei ist, ist es nicht
vorbei. Man hat ja immer noch Angst, es könnte wieder losgehen.»
Nun meldet sich eine andere Mitschülerin zu Wort: «Ja, aber
der Samuel ist auch oft so abweisend zu uns und merkt gar nicht den Unterschied,
ob man es gut mit ihm meint oder nicht, und dann beschuldigt er einen aus
der Klasse ganz zu Unrecht. Und schließlich haben wir doch in der
Klasse aufgehört, ihn zu ärgern.»
Die Lehrerin bemerkt: Zuerst war die eine Seite im Konflikt gefordert,
die «Täterseite», und nun die andere Konfliktpartei, die
«Opferseite», sich in ehrlichen Momenten, die zwischenmenschlichen
Frieden möglich machen, der Gegenseite wieder zu öffnen.
Sie sprach folgende Einladung verständnisvoll und menschlich gewinnend
aus: «Samuel, was meinst du, deine Mitschüler haben es doch
verdient, daß du ihnen zumindest eine Chance gibst.»
Die Lehrerin konnte hier und in der Folge mit den Schülern entwickeln,
wie ein längerdauernder Konflikt so gelöst werden kann, daß
er wirklich gelöst ist und daß alle davon lernen. Dies vollzog
sie – psychologisch richtig – auf der Grundlage des Verständnisses.
Dieses Verständnis setzte eine Schulung des Einfühlungsvermögens
in die Situation, die Gefühle, die Perspektive des anderen voraus.
Sie schulte im Verlauf der Monate die Fähigkeit ihrer Schüler,
die Handlung des Mitschülers zunehmend aus dessen Perspektive, aus
dessen Erlebnissen und dessen Gefühlswelt betrachten zu können.
Sie lernten sich in den Mitmenschen und seine Situation einzufühlen,
das Leid des andern im eigenen Gefühl zu spüren.
Hier vertiefte die Lehrerin in einem bewußten Prozeß, was
im Elternhaus bereits an Friedenserziehung gelegt worden war. Bei manchen
Schülern war dieser Erziehungsprozeß bereits fortgeschritten,
andere standen noch recht am Anfang. Sie ermöglichte durch das Klassengespräch,
daß die weniger geschulten Schüler von den anderen lernen konnten.
Im Lauf der Jahre ist bei allen in der Klasse ein Boden gewachsen, der
jeden Schüler sensibler im Wahrnehmen von Konflikten machte und ihr
Repertoire an möglichen Lösungsversuchen anreicherte.
Quelle: Infobrief Nr. 6, November 2005