Um eine friedliche Lösung miteinander ringen – Friedenserziehung in Familie und Schule

Dr. Anita Schächter, Kinder- und Jugendpsychologin

Kürzlich hörte ich den Bericht einer Palästinenserin. In ihrem Land herrscht seit über 50 Jahren Krieg. Die Kinder müssen in einem Land aufwachsen, in dem der Krieg zum Alltag gehört. Sie leben im Gefühl der Normalität, wenn sie bewaffnete Männer patrouillieren sehen. Sie müssen lernen, damit umzugehen, daß sie in der Öffentlichkeit Tote auf dem Boden liegen sehen. Zu ihrer Lebenswirklichkeit gehört, daß Vater, Mutter, Geschwister, Tante oder Onkel getötet worden sind, oder sie erleben dies hautnah in der Familie ihres Schulkameraden.

Unsere Lebensrealität ist eine andere. Das war in der Generation unserer Großeltern, die Krieg und Vertreibung erleben mußten, noch anders. Wissen wir heute, auf welche Welt wir unsere Kinder vorbereiten müssen? Wie stark wären dann ihre inneren Widerstandskräfte in Zeiten der Krise, in Zeiten des Krieges? Welchen Beitrag leisten wir Eltern, Erzieher, Lehrer zur Friedenserziehung? Wie stehen wir innerlich in Konfliktsituationen, wenn Kinder streiten? Was heißt überhaupt Friedenserziehung im Alltag?

Friedenserziehung gelingt nur, wenn der Mensch lernt, seine Würde genau so wie die des Mitmenschen zu achten. Friedenserziehung erfordert eine gefühls- und verstandesmäßige Präsenz des Erziehers, der Wege sucht, das Kind in seiner Entwicklung zur Friedfähigkeit hin zu begleiten. Das Kind braucht Anleitung, Konflikte als solche zu orten, sie wahrzunehmen, zu verstehen und schließlich einen friedlichen Lösungsweg zu suchen. Dann kann später auf politisch-inhaltlicher und schließlich auf der menschlichen Ebene der Friede hergestellt werden. Opfer und Täter sind eines Tages gefordert, gemeinsam eine Gesellschaft wiederaufzubauen, ein Alltagsleben möglich zu machen, Versöhnung zu leben. Dies ist ein politischer, aber auch ein zwischenmenschlicher Prozeß, auf den jeder vorbereitet sein sollte und zu dem der Mensch fähig werden muß.
Situationen, die geeignet sind, Friedenserziehung zu praktizieren, zu leben, begegnen jedem Erzieher im Alltag dort, wo Kinder miteinander leben. So wie im folgenden Beispiel.

Streit im Lift

Bis heute war alles geregelt. Der 5jährige bediente die Schaltknöpfe des Liftes, weil er von der Größe her alle Knöpfe bedienen und auch die Zahlen des zu erreichenden Stockwerkes lesen konnte. Heute protestiert die 3jährige Schwester überraschend und heftig. Sie drängt sich zu den Bedienungsknöpfen vor, der Bruder schiebt sie weg. Geschrei. «Ich will auch.» «Nein, laß mich.» Die Kinder schubsen sich gegenseitig fort, keiner will nachgeben. Und wie reagiert die Mutter? Hat sie den Impuls, den Konflikt zu ersticken? Will sie Ruhe herstellen, oder geht sie genervt vorbei? Regelt sie den Konflikt für die Kinder oder mit den Kindern?

Sie kann diesem kleinen, alltäglichen Konflikt besser begegnen, wenn sie sich der großen Dimension bewußt ist, wenn sie sich der Würde ihrer Erziehungsaufgabe im klaren ist, wenn sie weiß, daß genau in diesem Moment ein Stück Friedenserziehung stattfindet. Um den Lift nicht länger zu blockieren, steigt sie mit den noch protestierenden Kindern aus. «Also Kinder, was ist los?», stellt sie als Frage in den Raum. Die Kinder bringen den Konflikt aus der eigenen Sicht zum Ausdruck: «Es ist doch meine Aufgabe», so der Große. «Aber ich bin jetzt auch schon groß und weiß, wo ich drücken muß», so die Kleine.
Die Mutter nimmt beide in ihrer Sicht entgegen: «Es ist wirklich schön, daß du, Niklas, schon so mitdenkst und Aufgaben übernimmst für uns alle, den Hasen fütterst, Brötchen kaufen gehst und auch im Lift schaust, daß wir im richtigen Stockwerk ankommen. Und du, Sabrina, bist tatsächlich auch schon groß geworden und kannst auch immer mehr. Das stimmt, findest du nicht auch, Niklas?» So bemüht sie sich um ein Stück Einfühlung in den anderen, das Nachvollziehen des Standpunktes des Gegenübers. Schließlich stellt sie die Frage: «Wer hat eine Idee, was wir jetzt machen sollen. Wer von euch darf die Knöpfe bedienen?» Zu ihrer großen Freude kommt der Vorschlag von den Kindern: «Wir wechseln ab. Und du darfst anfangen», so Sabrina zu ihrem Bruder.

Hier ging es um mehr als nur um das Abstellen des Streits. Um mehr als die aktuelle Lösung des Konfliktes, der zudem recht harmlos war.

Wenn Kinder Verständnis erfahren und man mit etwas Zeit und Ruhe den Prozeß begleitet und an einer einvernehmlichen Lösung arbeitet, einer Lösung, die von jeder Partei angenommen werden kann, dann findet Friedenserziehung statt. Kein erzwungener «Friede», sondern ein errungener Friede ist hier die Perspektive.

Den Mitmenschen verstehen

Ein zweites Beispiel umfaßt den Prozeß der Friedenserziehung auch auf der Elternseite: Während die Mutter der Nachbarin die ausgeliehene Salatschüssel zurückbrachte, kam der Vater nach Hause. Als sie ins Haus zurückkommt, trifft sie folgende Situation an: Die Kinder weinen und beklagen sich auf Nachfrage, Papa hätte so sehr geschimpft. Der Vater ist außer sich, weil die Kleinen mit den Bettdecken die Treppe runtergerutscht sind und mit den beiden Nachbarskindern großes Vergnügen daran gefunden haben. Er hat die beiden kleinen Besucher harsch nach Hause geschickt und den Geschwistern, 4- und 8jährig, ein generelles Spielverbot im Haus mit andern Kindern erteilt. Er war immer noch wütend und zu keinem Gespräch bereit. Die Mutter schlug ihm vor, sein Gemüt bei einem Gartenrundgang abzukühlen. Dann sprach sie mit den Kindern: «Das war schon eine schlechte Sache, mit den Bettdecken aus unserem Zimmer Rutschbahn zu spielen. Da hat Papa recht. Das geht auf keinen Fall. Aber ich habe auch gemerkt, daß Papa ziemlich arg geschimpft hat. Wir wissen nicht, wie Papas Tag war, ob im Zug was Schlimmes passiert ist oder ob er Ärger im Büro hatte. Jetzt bezieht ihr beiden die Betten frisch und überlegt euch, wie ihr euch dafür entschuldigen könnt.»

Beim Abendessen eine halbe Stunde später fragt die Mutter den Vater: «Und, wie war dein Tag?» «Ganz schlecht.» «Warum?» fragt sie interessiert. «Es gab Ärger mit dem Chef.» Die Kinder blicken aufmerksam. Der Vater berichtet ein wenig vom Ärger, und alle hören zu. Die Mutter sagt: «Ja, das verdirbt einem die gute Stimmung.» Die Kinder gingen ins Bett, malten zuvor noch ein schönes Bild und schrieben das Wort «Entschulbigung» auf ein Blatt. Dieses legten sie auf sein Kopfkissen. Als der Vater spät abends die beiden Blätter fand, war er ganz gerührt - aus ihnen sprach, daß die Geste der Entschuldigung ehrlich gemeint war. Der Vater überlegte, wie er hierauf reagieren wollte. Am nächsten Tag fanden die Kinder folgenden Zettel auf dem Küchentisch: «Liebe Alisa, lieber Paul, Papi hat sich sehr gefreut und sagt auch Entschuldigung, weil er zu arg geschimpft hat. Euer Papi.» Die Kinder strahlen, als Paul das Brieflein vorliest. Abends sagte der 8jährige, als der Vater sich erkundigte, ob sie seinen Brief gefunden hätten. «Ja, ich habe mich sehr glücklich gefühlt.»

Mobbing und Friedenserziehung

Ein drittes Beispiel ist komplexer gelagert und fordert viel Erfahrungswissen und Sozialkompetenz von Erwachsenen und Kindern. Es verdeutlicht, daß Friedenserziehung mehr ist als Gewaltprävention und daß sie auch einen Lernprozeß auf der Seite des Opfers erfordert.

Kurz nach Schuljahresbeginn wird die Lehrerin auf einen für die Schüler nicht lösbar scheinenden Konflikt aufmerksam. Ein Schüler zischt seine Mitschülerin an, jetzt sofort den Druckbleistift zurückzugeben, den sie ihm weggenommen habe. Diese insistiert darauf, zu Unrecht angeschuldigt zu werden.
Die Lehrerin unterbricht die Mathematikstunde und erkundigt sich, welches Problem hier vorliege. Im selben Moment, in dem die Schüler den Konflikt vortragen, findet der Jugendliche seinen Stift wieder, der zwischen die Bücher gerutscht ist. Es war also ein Mißverständnis. Da genau dieser Schüler aber im vergangenen Jahr von der Klasse massiv gemobbt worden ist und Mitschüler oft seine persönlichen Gegenstände versteckt haben, nimmt sie diese Situation zum Anlaß, hier die Brücke zwischen den Schülern weiter auszubauen. Sie wendet sich an die Klasse mit der Frage: «Kann jemand unseren drei Mitschülern, die dieses Jahr neu in unsere Klasse gekommen sind, erklären, was hier los ist?»
Sie erteilt einer Schülerin das Wort, die plastisch und einfühlsam zu berichten vermag, wie Samuel im vergangenen Schuljahr von der Klasse geärgert worden ist. Die Lehrerin schließt die Frage an: «Und wer kann sich vorstellen, wie es einem in einer solchen Situation geht?» Ein Mitschüler antwortet: «Das tut einem im Herzen, im Gefühl weh, wenn man das erlebt. Und auch wenn es dann vorbei ist, ist es nicht vorbei. Man hat ja immer noch Angst, es könnte wieder losgehen.» Nun meldet sich eine andere Mitschülerin zu Wort: «Ja, aber der Samuel ist auch oft so abweisend zu uns und merkt gar nicht den Unterschied, ob man es gut mit ihm meint oder nicht, und dann beschuldigt er einen aus der Klasse ganz zu Unrecht. Und schließlich haben wir doch in der Klasse aufgehört, ihn zu ärgern.»
Die Lehrerin bemerkt: Zuerst war die eine Seite im Konflikt gefordert, die «Täterseite», und nun die andere Konfliktpartei, die «Opferseite», sich in ehrlichen Momenten, die zwischenmenschlichen Frieden möglich machen, der Gegenseite wieder zu öffnen.
Sie sprach folgende Einladung verständnisvoll und menschlich gewinnend aus: «Samuel, was meinst du, deine Mitschüler haben es doch verdient, daß du ihnen zumindest eine Chance gibst.»

Die Lehrerin konnte hier und in der Folge mit den Schülern entwickeln, wie ein längerdauernder Konflikt so gelöst werden kann, daß er wirklich gelöst ist und daß alle davon lernen. Dies vollzog sie – psychologisch richtig – auf der Grundlage des Verständnisses. Dieses Verständnis setzte eine Schulung des Einfühlungsvermögens in die Situation, die Gefühle, die Perspektive des anderen voraus. Sie schulte im Verlauf der Monate die Fähigkeit ihrer Schüler, die Handlung des Mitschülers zunehmend aus dessen Perspektive, aus dessen Erlebnissen und dessen Gefühlswelt betrachten zu können. Sie lernten sich in den Mitmenschen und seine Situation einzufühlen, das Leid des andern im eigenen Gefühl zu spüren.
Hier vertiefte die Lehrerin in einem bewußten Prozeß, was im Elternhaus bereits an Friedenserziehung gelegt worden war. Bei manchen Schülern war dieser Erziehungsprozeß bereits fortgeschritten, andere standen noch recht am Anfang. Sie ermöglichte durch das Klassengespräch, daß die weniger geschulten Schüler von den anderen lernen konnten. Im Lauf der Jahre ist bei allen in der Klasse ein Boden gewachsen, der jeden Schüler sensibler im Wahrnehmen von Konflikten machte und ihr Repertoire an möglichen Lösungsversuchen anreicherte.

Drei Pfeiler der Friedenserziehung

Wenn Eltern, Erzieherinnen und Lehrer die politische Dimension vor Augen haben, wissen sie, worum es in der Friedenspädagogik geht. Sie haben einen Kompaß, der sie wissen läßt, in welche Richtung der Prozeß der Friedenserziehung oder Gewaltprävention entwickelt werden muß.
Der Prozeß der Friedenserziehung ruht psychologisch gesehen auf drei Pfeilern: Er erfordert Einfühlung in das Leid des Geschädigten, in sein Erleben, und er erfordert die Entwicklung von Formen der Wiedergutmachung, der Entschuldigung für angerichtetes Unheil. Der dritte Pfeiler echter Friedenserziehung setzt beim Geschädigten an: Bei ihm muß der gefühlsmäßige Boden gelegt werden, der ein Wiederanknüpfen an freie Formen der menschlichen Begegnung ermöglicht. Es ist dies eine Form des Verzeihens, des sich Zugänglich-Machens für ein gereiftes menschliches Miteinander im Alltag. Diesem anspruchsvollen Prozeß müssen sich Menschen öffnen, die in Kriegsgebieten leb(t)en, wo die Narben des Krieges noch schmerzen, wie in Ruanda, in Palästina, im Kongo, in Afghanistan, im Irak. Wenn dieser Prozeß möglich werden soll, so sind Erzieher in der Pflicht, zu lernen und zu üben, wie sie alltägliche Konfliktsituationen unter Kindern und auch unter Erwachsenen mit Blick auf die große gesellschaftliche und politische Realität im Sinne einer Friedenspädagogik ausgestalten können.   ·

Quelle: Infobrief Nr. 6, November 2005