Fernsehen und Sprachentwicklung
Katrin Schulte-Holtey

Nicht selten müssen sich die Lehrer anhören, daß ihre Schüler ihr Wochenende vor dem Fernseher verbracht haben. Ein Schüler, der am Montag morgen seinem Lehrer erzählt,er habe am Sonntag sieben Stunden ferngesehen, befindet sich heutzutage in guter Gesellschaft. Er steht mit dem Ausmaß seines Fernsehkonsums und den Folgen dieser Angewohnheit als Beispiel für eine ganze Schülergeneration, die die Lehrer seit einiger Zeit an ihren Schulen antreffen. Viele Kinder verbringen während ihrer Jahre in der Primarschule mehr Zeit vor dem Fernseher als in der Schule.

Das, was die Lehrer schon lange als Phänomen in ihren Klassen beobachten, belegen inzwischen auch unzählige Studien: Fernsehgeschädigte Kinder können bereits im Alter von drei Jahren für ihr ganzes Leben in gewissen Bereichen benachteiligt sein. Eine Langzeitstudie in England zeigte, daß bei 20% der erst neun Monate alten Kinder, die zuviel Fernsehen konsumierten, schon ein sprachlicher Entwicklungsrückstand besteht. Glücklicherweise können Eltern, die über die Schädigungen durchs Fernsehen und auch die Möglichkeiten einer Korrektur frühzeitig informiert werden, den Schaden noch beheben (auch mit fachlicher Unterstützung) - dies wird allerdings immer schwieriger, je älter die Kinder schon sind. Fernsehen verursacht in einem alarmierenden Ausmaß Sprachentwicklungsstörungen. Die Kinder werden durch ausuferndes Fernsehen geradezu am Sprechenlernen gehindert. Und zwar nicht nur Kinder aus benachteiligten sondern ebenso Kinder aus besseren Verhältnissen. Betroffen sind also alle Kinder. Dabei ist zu bedenken, daß jede Sprachbehinderung zugleich auch ein Risiko für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes und seine soziale Entwicklung bedeutet. In der Schule kann man zum Beispiel beobachten, wie die Kinder im Aufbau ihrer Beziehungen dadurch eingeschränkt sind, daß sie häufig nur noch in komikartigen Satzfragmenten miteinander kommunizieren. Natürlich ist das Fernsehen nicht die einzige und ausschließliche Ursache für Sprachentwicklungsstörungen. Aber die Medien haben einen enorm großen Anteil daran. Welche Faktoren spielen zusammen, wenn es zu Sprachentwicklungsstörungen kommt? Ein übermäßiger Medienkonsum der Eltern des Kindes hat meist auch einen exzessiven Medienkonsum des Kindes zur Folge. Wenn dann noch ausgleichende Maßnahmen ausbleiben, wie Vorlesen, Erzählen, Miteinanderspielen und gemeinsame Aktivitäten im Freien, hat dies fatale Auswirkungen auf die Sprachentwicklung.

Worin zeigen sich Sprachentwicklungsstörungen?

Beobachtet werden kann eine Einschränkung des altersgemäßen Wortschatzes, Störungen im Sprechen und Verstehen von Sätzen, auffallend viele grammatikalische Fehler beim Sprechen und Probleme dabei, die Bedeutung von Wörtern richtig zu erfassen, was sich in einer ungenauen Ausdrucksweise ausdrückt.
Was geschieht eigentlich vor dem Fernseher, bzw. was geschieht gerade nicht? Alle Kommunikationsbestrebungen des Kindes, alle seine Emotionen, bleiben vor dem Fernseher unbeantwortet. Das Fernsehen treibt das Kind, das sich ja in seinen Entwicklungsjahren befindet, die es mit vielerlei Aktivitäten ausfüllen sollte, in eine Stagnation, es zwingt es zur Passivität und zur nonverbalen Beschäftigung. Vor dem Fernseher besteht für das Kind keine Möglichkeit zur Interaktion - es hat auch kein Gegenüber, das mit ihm in den Austausch tritt. Für die Entwicklung der Sprache, ihrer ganzen Komplexität und für die Entwicklung des Denkvermögens aber ist es von immenser Bedeutung, daß das Kind so viele Chancen zur verbalen Übung erhält wie nur möglich.

In einer Studie in Deutschland, die Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre in einer großen deutschen Stadt durchgeführt wurde, kam man zu dem beunruhigenden Ergebnis, daß dort etwa ein Viertel aller dreieinhalb bis vierjährigen deutschsprachigen Kinder Sprachentwicklungsstörungen aufwies! Die Studie steht als Beispiel für die allgemeine Tendenz der besorgniserregenden Zunahme der Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern. Bei 25% der betroffenen Kinder bleiben trotz Förderung Dauerschäden zurück. Diese alarmierenden Zahlen, hinter denen unzählige individuelle Lebensläufe stehen, sollten endlich bekanntgemacht werden, damit Eltern und Fachleute aufgerüttelt werden und beginnen, die Kinder vor den katastrophalen Folgen des Fernseh- bzw. Medienkonsums zu schützen. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere an seine eigene, noch fernsehfreie Kindheit zurück, wenn er folgendes Zitat liest: «Die Einführung des Fernsehens in die Familie hat das Spielen, das Geschichtenerzählen von Mensch zu Mensch sowie die anteilnehmende menschliche Unterhaltung im Leben der Kinder ersetzt. Die Kinder haben dadurch den Sinn für Geschichte und für die Fortdauer der Generation ihrer Familie verloren. [...] Seit dem Einzug des Fernsehens in die Familie spielen Eltern und Freunde selten mit Kindern. Vor dem Fernseher spielen die Kinder auch nicht miteinander. Sie verlieren die Fähigkeit zu spielen und sich etwas vorzustellen.» (Neil F. Young). Kann man das unseren Kindern noch länger zumuten?

Hinweise auf die erwähnten Studien sowie umfassende Informationen zum Thema finden Sie in: Glogauer, Werner, Die neuen Medien machen uns krank. Gesundheitliche Schädigungen durch die Medien-Nutzung bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, Weinheim 1999.

Quelle: Für die Familie e.V., Infobrief 3